Nacer Khemir
Der in Tunesien geborene und heute in Frankreich lebende Berber Nacer Khemir ist vor allem ein Erzähler. Ob als Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Kalligraf oder Regisseur – Khemir erzählt Geschichten, in denen er das Wünschen und Träumen gegen die „Welt des Faktischen, des Gesetzes“ verteidigt. So führt er die Tradition der großen arabischen Erzähler fort.
Er ist Cineast, Erzähler, Autor, Kalligraf, Maler und Bildhauer in einer Person. In welchem Medium auch immer er sich betätigt, der in Tunesien geborene Berber Nacer Khemir erweist sich als großer Erzähler. In seinen Erwachsenen- und Kinderbüchern, seinen Theaterauftritten, seinen Bildern und Filmen verteidigt Nacer Khemir, wie er sagt, „die Welt des Wünschens, des Begehrens, des Imaginären gegen die Welt des Gesetzes, des Faktischen.› Die Inspirationen hierfür findet er im moslemischen Andalusien des 11. Jahrhunderts. Im Cordoba dieser Zeit verortet er ein „Goldenes Zeitalter›, das er mit Hilfe des Imaginären zurückholen will. Leiten lässt er sich dabei von „hoher“ wie auch populärer Literatur sowie von den oralen Traditionen des Orients. Er hat, wie er es ausdrückt, „nie aufgehört, im dunklen Licht der Legenden aufzugehen›.
Sein 1991 gedrehter Film „Das verlorene Halsband der Taube› spielt in dieser Blütezeit andalusisch-arabischer Kultur. Hassan erlernt bei einem Meister der Kalligrafie die Kunst der arabischen Schönschrift. Seine Suche nach den verlorenen Blättern eines Manuskripts und den sechzig arabischen Begriffen für die Facetten der Liebe schafft den Rahmen für einzelne, im Stil von „1001 Nacht“ erzählte Episoden. Dabei beginnt die Grenze zwischen Realität und Illusion für den Kalligrafen allmählich zu verschwimmen. Er gerät in den Bann der Prinzessin von Samarkand, deren Bild er auf einer versengten Buchseite ständig bei sich trägt. Doch das geheimnisvolle Paradies, in dem die Liebe der beiden jungen Menschen zu wachsen beginnt, wird am Ende von Fanatismus, Machtstreben und Zerfall bedroht.
„Bei den Eskimos gibt es 60 Worte für Schnee. Bei den Arabern 60 Worte, um die Liebe zu benennen. Wenn man weiß, dass die Worte für Liebe aus der Wüste stammen, dann versteht man, wie nahe sich Liebe und Tod sind. Denn wenn man sich in den unendlichen Weiten der Seele verirrt, verliert man auch sein Leben. Wenn der Liebende ‚im Zustand der Verwüstung’ ist, hat er keinen Zugang mehr zu seiner eigenen Quelle. So sprechen die Worte der Liebe zu uns über den Untergang, den Irrweg und den Abgrund: Die Liebe als Umherirren.“
Wie man in einer Wüste mit Hilfe des Imaginären überleben kann, zeigt Nacer Khemir in seinem Film „Die Wüstenwanderer› (1984). Hier irren Männer einer Oase ziellos durch die Wüste. Es ist die Wüste einer zerschlagenen Ökonomie und Kultur, in der die meisten gezwungen sind, Beschäftigung in der Stadt, im subventionierten Norden Tunesiens oder im Ausland zu suchen, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Zurück bleiben Alte, Kinder und Frauen. Das Geheimnis, wie man in der unwirtlichen Gegend leben kann, ist verloren gegangen. Der alte Scheich, der das Wissen in Form eines Buches hütet, ist erblindet. „Elend, Armut, Verzweiflung› kennzeichnen für den Regisseur die Lage im Süden.
Ein junger Lehrer fährt in einem klapprigen Autobus durch eine Wüste in die Ruinenstadt, in der er eine Schule leiten soll. Am Rande der im Sandmeer der Wüste verlorenen Ortschaft machen seltsame von Staub bedeckte Gestalten ihre Aufwartung. Mit unheimlich langsamen Bewegungen zeichnen sie eine unsichtbare Linie, hinter der eine andere Welt beginnt; jene der „baliseurs“, der Spurenmacher.Es tritt zutage, dass es hier keine Schule gibt, nur Kinder, Frauen und ein paar weise Alte. Die jungen Männer sind dem mysteriösen Ruf der Wüste gefolgt und tauchen nur noch einmal im Jahr auf – immer zur selben Zeit – als ein Heer von Phantomen. Auch der junge Lehrer kann diesem Ruf nicht widerstehen.
In „Die Wüstenwanderer› beweist Nacer Khemir einmal mehr seine Verbindung zu den großen Erzählern der Medina von Tunis. Der mehrfach preisgekrönte Film lehnt sich an die Legenden aus „1001 Nacht› an und die seltsamen Geschichten, die um die Festung Alhambra in Granada ranken. Er erinnert an die verlorene Größe der arabischen Zivilisation. Der Regisseur und Autor erzählt mit den Augen eines Malers und rehabilitiert die große Erzählkunst seiner berberischen Vorfahren. „Die ‚Wanderer der Wüste’›, so Khemir, „sind all die Generationen der Hoffnung, die sich, allein weil sie hoffen, zum Tod verurteilen, zum Selbstverlust, zum Untergang: Eine Welt, die ihre ‚Wüstenwanderer’ nicht zurückholt, hat keine Zukunft.›